Multivalente Glycokonjugate und
das Geheimnis der Glycocalyx

Als kleines Kind wollte ich Erfinder werden. Ich habe nicht überlegt, ob ich das darf oder ob das zu einem Mädchen passt. Mir war klar, das will ich und das kann ich. Aber natürlich gab es jemanden, der zu mir sagte, „Erfinder“ (die geschlechtergerechte Sprache und damit die „Erfinderin“ waren damals noch nicht erfunden) könne man nicht werden, das sei man erst dann, wenn man mal etwas erfunden habe, und das käme nur ganz selten vor. Auch von diesem „ganz selten“ ließ ich mich nicht abschrecken, im Gegenteil. „Ganz selten“ ist immer ein schöner Anreiz für mich geblieben. Aber ein bisschen eingeschüchtert war ich schon ob der Ansage, dass man Erfinder offensichtlich nicht zum Berufswunsch erküren kann. Dann habe ich mich für Naturwissenschaften interessiert, dafür geschwärmt, die belebte Natur erkunden zu können, das Wesen des Lebendigen zu verstehen. Dies ist bis heute eine Motivation für meine Arbeit geblieben. Chemie oder Biochemie studieren, das war in den letzten beiden Jahren meiner Gymnasialzeit die Frage. Eine erste und einzige Berufsberatung legte nahe, dass Biochemie wohl ein Studium zwischen allen Stühlen abgeben würde und man riet mir zu etwas Gediegenem, der reinen Chemie. Ich habe dann in München an der LMU angefangen zu studieren. Der Stundenplan mit 42 Semesterwochestunden im ersten Semester führte schnell dazu, dass sich die Spur meiner ehemaligen Schulkameraden weitgehend verlor; die verabredeten sich im ersten Semester freitags zum Skifahren, wir standen im Praktikumssaal. Alle Chemiestudierenden kennen das. Es ist auch ein Teil unserer Fachkultur: Arbeiten bis kurz vor dem Umfallen. Es ist allerdings erlaubt zu fragen: muss das sein? Das Grundstudium empfand ich als Zumutung, aber nach dem Vordiplom bekam ich Spaß an der Sache, wechselte an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster und belegte dort als viertes Hauptfach Biochemie. Meine Diplomarbeit führte mich in den Arbeitskreis von Professor Thiem, denn ich fand nichts einleuchtender als Zuckerchemie und Zuckerbiochemie. Das ist bis heute so geblieben. Man sollte immer das machen, was einem leicht fällt, dort ist man richtig. Für meine Promotion zog ich mit der Arbeitsgruppe Thiem nach Hamburg, promovierte dort im Jahr 1991 und ging danach für einen Postdocaufenthalt in die Gruppe von Professor Withers an die UBC, die University of British Columbia. Es ist traumhaft dort! Während der von der DFG geförderten 15 Monate in Kanada reifte mein Entschluss zu einer Habilitation, zu meinem eigenen Forschungsthema. Als erstes hatte ich die Dendrimere an der Angel: Hochverzweigte, diskrete Strukturen, die man generationsweise vergrößern kann; Moleküle zwischen Monomer und Polymer. Auf mich übten diese Verbindungen, die, wenn man sie zeichnet wunderschön aussehen können, eine große Faszination aus. Ich erfand, -sozusagen gleichzeitig mit René Roy in Ottawa, von dem ich damals noch nichts wusste-, die Glycodendrimere, und ich publizierte meine Idee, viel zu bescheiden, in den international wenig renommierten „Blauen Blättern“ der GDCh: Glycodendrimere: Nachr. Chem. Techn. Lab. 1996, 44, 1073-1079. Das war strategisch nicht besonders klug, aber von Strategie habe ich erst viel später etwas erfahren, als ich schon Lehrstuhlinhaberin in Kiel war (seit 2000). Glycodendrimere sind Verbindungen, in denen die Komplexität natürlicher hochverzweigter Oligosaccharide (Abbildung 1A) dadurch vereinfacht wird, dass ein relativ leicht zugängliches Dendrimer-Gerüstmolekül, das zunächst nichts mit einem Kohlenhydrat zu tun hat, in seiner Peripherie mit denjenigen Zuckermolekülen dekoriert wird, die für eine bestimmte Untersuchung als entscheidend angenommen werden (Abbildung 1B). Wir konnten sogar in diesen letzten Dekorierungsschritt noch eine Vereinfachung einbauen, indem wir nicht die anspruchsvolle Glycosidsynthese einsetzten, sondern eine Thioharnstoff-Verknüpfung verwendet haben, die Glycosylisothiocyanate mit den peripheren Aminogruppen eines entsprechenden Dendrimers (z. B. eines PAMAM-Dendrimers) verknüpft. So haben wir die Thioharnstoff-verknüpften Glycodendrimere eingeführt, ein Verbindungstyp, der zu den multivalenten Glycomimetika gehört.

Abbildung 1: Hier geht es um Mannose (in Blau). Mannose ist ein wichtiger Teil oligoantennärer Glycoproteine auf der Zelloberfläche (wie in A) und wird dort von spezialisierten Proteinen, den Lektinen, erkannt und komplexiert. Auch Bakterien nutzen eigene Lektine zum Zwecke der Adhäsion an die Wirtszelloberfläche. Thioharnstoff-verbrückte Glycodendrimere (B) können solche natürlich vorkommenden Oligosaccharide mimikrieren und beispielsweise als Inhibitoren bakterieller Adhäsion eingesetzt werden, ebenso wie die „Octopus-Glycoside“ (C). Glycodendrimere lassen sich z.B. durch die Reaktion von hochverzweigten Polyaminen (hier ein kleines Polyamidoamin-(PAMAM-)Dendrimer) mit Glycosylisothiocyanaten herstellen. Octopus-Glycoside haben wir durch Glycosylierung Kohlenhydrat-zentrierter Polyole erhalten. Die künstlich entworfenen Glycokonjugate vom Typ B und C sind Vertreter sogenannter multivalenter Glycomimetika, die in den Glycowissenschaften benötigt werden um den Funktionen von Zuckern bei der Zellkommunikation auf die Spur zu kommen. Vgl. dazu: M. Dubber, O. Sperling, Th. K. Lindhorst, Org. Biomol. Chem. 2006, 4, 3901-3912.

Alles schöne Moleküle, aber wozu? Die Frage ist berechtigt. Man muss wissen, dass Kohlenhydrate und Glycokonjugate jede Zelloberfläche dekorieren. Eine dicke, bis über 100 Nanometer Raum greifende Schicht umgibt auch alle Säugetierzellen. Diese Schicht wird Glycocalyx genannt. Die Glycokonjugat-Bestandteile der Glycocalyx sind kompliziert, hochverzweigt, multivalent gebaut und sie übernehmen ganz unterschiedliche, immer essentielle Funktionen bei der Kommunikation zwischen Zellen. Vieles in diesem Geschehen wird sozusagen in Gang gesetzt von spezialisierten Proteinen, die Kohlenhydrate spezifisch erkennen und komplexieren können, die Lektine. Die Wechselwirkungen zwischen Lektinen und ihren Kohlenhydrat-Liganden allerdings sind, wenn man sie ex vivo misst, besonders schwach mit Dissoziationskonstanten im millimolaren Bereich. Da leuchtet es nicht ein, wie ihnen eine wichtige biochemische Rolle zukommen kann. Allerdings sind so gut wie alle diese Lektin-Zucker-Wechselwirkungen multivalent angelegt und dies ermöglicht offensichtlich erst ihre Wirksamkeit bzw. vermittelt ihre Funktionsweise. Um dem Rätsel der Multivalenz bei der Kohlenhydraterkennung auf die Spur zu kommen, benötigt man Moleküle, mit denen man ganz dezidierte Fragen experimentell adressieren kann: multivalente Glycomimetika wie die Glycodendrimere. Ich habe viele Ideen und Gedanken zum Rätsel der Multivalenz in der Glycobiologie und zur Natur der Kohlenhydrat-Erkennung auf Zelloberflächen im Hinterkopf. Es scheint bisher ein gut gehütetes Geheimnis, was das Wesen der Glycocalyx ist. Ich las kürzlich über die Unschärfe der Struktur der Zellmembran (Science 2010, 327, 46-50). Ähnliches sollte man einmal über die Zelloberfläche denken: Danach würde eine Änderung der Verhältnisse der Glycocalyx schon dadurch induziert, dass man versucht sie zu beobachten. Das könnte genau so sein und wenn es stimmt, dann ist es höchste Zeit, sich ein passendes Experiment einfallen zu lassen, um das Geheimnis zu enthüllen.


Abbildung 2: links: Rasterkraftmikroskopisches Bild eines E. coli-Bakteriums, das mit Hilfe seiner Fimbrien an einer adhäsiven Oberfläche anhaftet.
rechts: Elektronenmikroskopische Aufnahme Typ-1-fimbrierter E. coli-Bakterien. Die durch Typ-1-Fimbrien vermittelte Adhäsion von Bakterien lässt sich durch multivalente Mannose-dekorierte Glycomimetika verhindern, was viele Anwendungsmöglichkeiten in Technik und Medizin zulässt.
Vgl. dazu: Th. K. Lindhorst: Ligands for FimH, In: Synthesis and Biological Applications of Glycoconjugates, O. Renaudet, N. Spinelli (Eds.), Bentham eBooks, 2011, 12-35
. open access

 

Viele der von uns erfundenen multivalenten Glycomimetika haben wir dazu verwendet, Zell-Zell-Interaktionen am Beispiel der Adhäsion von Bakterien zu untersuchen. Bakterien nutzen adhäsive Organellen, -Fimbrien oder Pili genannt-, die wie Haare ihre Oberfläche bedecken, um die Anheftung an die glycosylierte Oberfläche ihrer Wirtszellen zu ermöglichen (Abbildung 2). Das erlaubt Adhäsion, Kolonisation, Biofilmbildung und auch Internalisierung von Mikroben, was oft mit erheblichen Einbußen für den Wirtsorganismus verbunden ist. Fimbrien enthalten Lektinabschnitte mit unterschiedlichen Kohlenhydratspezifitäten. Wir haben sehr genau die a-D-Mannose-Spezifität von Typ-1-fimbriierten uropathogenen Escherichia coli-Bakterien (UPEC) untersucht und dabei viele Details entdeckt, die den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Wir sehen, dass die Fimbrien-vermittelte bakterielle Wechselwirkung mit Zuckern in Lösung anders geartet ist, als auf Oberflächen und wir sehen, dass die wirksamen adhäsiven Kräfte abhängen von den Scherkräften, die herrschen: Steigt der „flow“ nimmt bei Typ-1-Fimbrien die adhäsive Kraft noch zu, nach einem strukturbiologischen Prinzip, das als „Catch bond-Mechanismus“ bezeichnet wird. Praktisch gesprochen haften UPEC bei engagiertem Urinfluss noch fester an die Glycocalyx ihrer Wirtszellen als wenn keine Scherkräfte wirken. Man kann sich ausmalen, welche Implikationen diese Tatsache haben kann. Die Natur steckt voller Wunder, und dabei sind die Kohlenhydrate immer meine Spezialität geblieben. Mein Fach, die Biologische Chemie, kann zum Verständnis der Natur zweifellos Beiträge leisten, aber andere Disziplinen, andere Denkungsarten müssen einstimmen. Es ist meine Überzeugung, dass es auch Männer wie Frauen gleichermaßen braucht damit aus den diversen Tönen, die um uns herum erklingen, eine Melodie wird. Es ist für die Entwicklung unserer Gesellschaft wichtig, dies zu verstehen. Chauvinismus ist die Denkungsart von gestern und heute sehen wir nach vorne in eine Forschungslandschaft, die von Chancengleichheit auf allen Gebieten belebt werden kann.

 

CV Prof. Dr. Thisbe K. Lindhorst
19.11.1962geboren in München.
11/1981 - 2/1985Chemiestudium, Ludwig-Maximilians-Universität München.
4/1985 - 2/1988Chemiestudium, Biochemieschwerpunkt, Westfälische Wilhelms-Universität Münster.
1/1988 - 9/1988Diplomarbeit, Arbeitskreis von Prof. Dr. J. Thiem, Münster, "Synthese von l-Fucose-Derivaten zum Aufbau desoxygenierter Fucosylphosphate“.
10/1989 - 3/1991Dissertation, Universität Hamburg, Arbeitskreis von Prof. Dr. J. Thiem, Hamburg, "Die Synthese von l-Fucose-Derivaten als potentielle Inhibitoren und Modulatoren des GDP-β-L-Fucose-Stoffwechsels"
1991Geburt meines Sohnes Moritz Maximilian.
2/1992 - 4/1993Postdoc, DFG-Stipendium, University of British Columbia in Vancouver, Canada, Prof. Dr. St. G. Withers, Glycosidaseinhibitoren und Enzymologie.
10/1993 – 11/1998Habilitation am Institut für Organische Chemie der Universität Hamburg Universität.
1995Geburt meines Sohnes Justus Emanuel.
1998, 1999Venia Legendi und Privatdozentur, Hamburg.
Seit 1/2000Professur (C4) für Organische/Biologische Chemie, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Auszeichnungen und Ämter – Auswahl
1998Förderpreis der Karl-Ziegler-Stiftung
1998Chemiepreis der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen
2000Carl-Duisberg-Gedächtnis-Preis
2000Travel Award zum 1st German-American Frontiers of Chemistry Symposium, Kloster Seeon, Germany.
2002Travel Award zum 2nd German-American Frontiers of Chemistry Symposium, Durham New Hampshire, USA.
2002-2006Vorsitzende des Fakultätsausschusses Chemie an der CAU zu Kiel
2002-2010Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Forschungszentrums Borstel
2005-2011Mitglied und Stellvertretende Vorsitzende der Liebig-Vereinigung für Organische Chemie (GDCh)
2008/2009Mitglied der Evaluierungskommission des Research Council of Norway (RCN): Evaluation of Basic Chemistry Research Norway
Seit 2008GDCh-Ortsgruppenvorsitzende
Seit 2010Kuratoriumsmitglied bei den Nachrichten aus der Chemie
Seit 2010Chemie-Fachkollegiatin der DFG
Seit 2011 2. Vorsitzende des AKCC
Seit 2012 GDCh-Vorstandsmitglied